Ein Baum erzählt

Hier stehe ich, breit und fest. Ihr würdet sagen, seit langer Zeit, seit Jahrhunderten. Ich habe nicht denselben Zeitbegriff wie die Menschen.

Hier stehe ich, breit und stämmig auf einer Art Kies unter der Erde. Meine Wurzeln reichen tief hinab aber mein Fühlen geht weit über die Wurzeln hinaus, hinunter, in die ganze Stadt hinein.

Hier stehe ich, breit und zäh. Kein Sturm hat mich bisher entwurzeln können, kein Blitz sich in meinen Stamm geschlagen.

Hier stehe ich, breit und erhaben. Mein Fühlen reicht in jeden Ast, in jeden Zweig, in jedes Blatt, bis in die äusserste Spitze.

Hier stehe ich, breit und gross. Um mich herum meine riesige, weite Aura.

Hier stehe ich, breit und standhaft. Ich habe meine Aufgabe zu erfüllen, ich, der Baum.

Du fragst mich wie ich atme. Ich atme innerlich ein, fülle mich mit frischer klarer Luft, versorge damit meine Wurzeln, meinen Saft, meine Seele und wenn ich ausatme, versorge ich einen grossen Umkreis mit Sauerstoff.

Du fragst mich wie ich höre. Es ist nicht das Hören in Eurem Sinne, es ist eine Art gedämpftes Wahrnehmen der Geräusche. Ich fühle mehr, als dass ich höre. Es ist angenehm. Nicht so grell und laut wie die Menschen es empfinden.

Du fragst mich wie ich schmecke. Ich kenne keine verschiedenen Geschmäcker, wie Ihr Menschen es kennt. Um es mit Euren Worten auszudrücken: ich schmecke, wie wenn frische Luft sich auf Eure Zunge und auf Euren Gaumen legt. Es ist sehr angenehm, es belastet nicht und es fühlt sich leicht an.

Du fragst mich wie ich taste. Ich taste mit meinem ganzen Fühlen, mit meinen Zweigen, mit meinen Blättern und ich stosse ganz sachte an die weiche Luft, die wir alle, auch ich, zum Atmen brauchen.

Du fragst mich was ich fühle. Ich trage in mir die ganzen Gefühle der Menschen im weiten Umkreis. Ich fühle ihren Schmerz, ihre Schuld, ihr Fehlverhalten, aber auch ihre Lebensfreude, ihre Fröhlichkeit, ihr Lachen. Ich nehme das alles in mir auf, damit es die Menschen nicht überfordert.

Du fragst mich was ich denke. Ich denke, dass ihr Menschen es schon richtig macht. In meinem langen Leben liegt es durchaus drin, dass Ihr Fehler macht. Es braucht aber noch viel mehr Menschen, die sich auf den spirituellen Weg machen. Menschen, die mich so wie Du sehen und sich mit mir unterhalten. Das braucht es, damit die ganze Welt weiter existieren kann und gesundet.

Du fragst mich was ich sehe. Ich sehe weit in den Himmel bis an die obere Welt und ich sehe die Auren der Menschen, die an mir vorbeigehen. Das freut mich manchmal sehr, aber manchmal habe ich Mitleid mit den Menschen, die keine gute Aura haben. Aber ich bin zuversichtlich, dass sie eines Tages Menschen begegnen, die ihnen durch Ihr Tun und Denken helfen, ihre Aura zu verschönern.

Du fragst mich wie ich spiele. Ich brauche nicht zu spielen wie Ihr Menschen es versteht. Ich bin glücklich und fröhlich, wenn ich meine Zweige und Blätter bewege.

Du fragst mich wie ich die Jahreszeiten empfinde. Bei mir verändert sich fast nichts, auch wenn ich die Blätter verliere. Mir ist nicht kalt und auch nicht warm. In der Ruhephase fühle ich mich nicht bis in die letzte Pore, ich bin in mir selber zentriert.

Du fragst mich was ich bin. Ich war mal ein Mensch, keineswegs ein guter. Nun bin ich ein Baum. Was für ein Mensch ich war, ist nicht so wichtig. Ich bin dankbar, ein Baum zu sein, denn jetzt habe ich Gelegenheit, viel für die Menschen zu tun.Die Zeit hat nicht mehr den gleichen Stellenwert. Es geht mir gut.

(Copyright Susanne Holzthüm)